Gedanken
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Alleine sein und trotzdem irgendwie immer in Bewegung

Es ist schon spät, bereits nach 22 Uhr. Die Sonne ist lange untergegangen.

Sie ist wieder da, diese innere Unruhe. Ich muss raus, raus aus diesen vier Wänden, die mir eigentlich so viel Sicherheit geben. Ich schnappe mir meine Kopfhörer, mein Handy, öffne Spotify und suche mir eine Playlist mit traurigen Liedern heraus. Manchmal brauche ich das. Auch jetzt.

Ich schlüpfe in meine Jeansjacke, trage Sportleggings und Shirt, die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und verlasse meine Wohnung, lasse meine Katzen darin zurück, die mich mit großen Augen anschauen. Ein leises Maunzen zerreißt die Stille.
Allein.

Ich überquere die Hauptstraße, laufe den Feldweg entlang runter Richtung Mosel. Die Musik dröhnt in meinen Ohren.
Ich kann nicht atmen. Nicht richtig. Meine Brust fühlt sich eng, irgendwie zugeschnürt an; mein Herz ganz schwer.
Ich schließe die Augen, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann spüre ich sie: heiße Tränen, die über meine Wangen laufen. Wie eine Flut brechen Sie aus mir heraus, nicht mehr aufzuhalten.
Ich laufe weiter, lausche der Musik auf meinen Ohren, dem Text, den Klängen und Tönen und nehme in diesem Moment alles um mich herum viel intensiver wahr.
Ich rieche den Regen, der in der Luft liegt, spüre die kühle Luft auf meiner erhitzten Haut, fühle die Steine unter der dünnen Sohle meiner Schuhe.
Wieder allein.

Eine Frau kommt mir entgegen, schiebt ihr Fahrrad einen kleinen Berg hoch. Ich greife nach meinem Handy, tue so, als würde ich eine Nachricht schreiben. Ich möchte sie nicht grüßen, möchte vermeiden, ihr ins Gesicht zu blicken. Es ist mir peinlich, dass ich weine, dass die Tränen noch immer unkontrolliert fließen.
„Hallo“, sagt sie. Ich blicke auf. Weil es unhöflich wäre, es nicht zu tun. Ich zwinge mich zu einem zaghaften Lächeln, tausche nur einen flüchtigen Blick mit ihr.
Ihr Lächeln erstirbt. Stattdessen tritt Sorge in ihre Augen. Ich schüttle den Kopf, dann lächle ich wieder und gehe an ihr vorbei.
Ich drehe mich nicht um, setze meinen Weg fort, während die Tränen weiter fließen und meine Gedanken irgendwie hängen bleiben, sich fest haken, straucheln und stolpern.

Ich sitze wieder drauf, auf diesem Gedankenkarussell und weiß nicht, wie ich absteigen soll. Statt langsamer wird es immer schneller.

Ich setze mich auf eine Bank, lehne mich zurück, schließe die Augen, hole tief Luft. Der Knoten ist noch immer da; der Knoten in meiner Brust, der mich daran hindert, zu atmen. Richtig durchzuatmen.
Wieder allein.

Alles fühlt sich so weit weg an, so anders, nicht falsch, aber irgendwie auch nicht so ganz richtig.
Man muss es erst einmal lernen, dieses Alleinsein. Eigentlich dachte ich immer, ich wäre gut darin. Als ich noch in einer Beziehung war, waren mir meine Tage und Nächte, die ich nur für mich alleine hatte, heilig. Ich fieberte ihnen entgegen, genoss jede einzelne Minute davon.
Jetzt fühlt sich das Alleinsein irgendwie anders an. Vielleicht dachte ich immer nur, ich wäre gut im Alleinsein, weil ich es eigentlich nie war. Nicht, dass ich es jetzt wäre. Ich habe Familie und Freund*innen, die mein Leben nicht nur bereichern, sondern es zu etwas ganz Besonderem machen.
Dennoch ist es anders.
Wenn ich morgens aufwache, bin ich alleine. Wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme ist da niemand, der auf mich wartet. Niemand außer meinen Katzen.

Doch was ist so schwer am Alleinsein?
Man muss es erst lernen; lernen, mit sich selbst zurechtzukommen. Mit sich und seinen Gedanken, Wünschen und Träumen, aber auch Ängsten und Zweifeln und davon habe ich gerade genug. Mehr als genug.

Ich kann gerade nicht alleine sein.
Ich bin müde, gleichzeitig aber so energiegeladen, dass ich keine ruhige Minute finde. Ich spüre die Energie in mir aufsteigen, das Kribbeln in meinem Innern. Ich muss mich bewegen. Also stehe ich wieder auf, von der Bank und gehe einfach drauf los; drehe eine weitere Runde, lausche noch immer der Musik. Die Tränen sind zwischenzeitlich versiegt. Aber ich spüre sie noch immer, ganz tief in mir drin. Ich habe noch nicht genug geweint.
Ich erlaube mir noch drei weitere Songs. Ein paar Minuten, um zusammenzubrechen und mich danach wieder aufzurappeln.
Ich gehe weiter, erst schneller, dann wieder langsamer, weil ich noch nicht bereit bin, wieder in meine Wohnung zurückzukehren. In die Stille. Zurück zum Alleinsein.
Am Ende kehre ich doch zurück, in meine Wohnung, zu meinen Katzen, die mich mit ihren großen Augen anschauen.
„Bin wieder da“, sage ich leise und kraule sie hinter den Ohren.
Ich fühle mich besser, jetzt, nachdem ich sie herausgelassen habe, diese innere Unruhe.

„Gönn dir mal ein bisschen Ruhe“, sagt sie und lächelt.
„Ruhe?“, frage ich und schüttle den Kopf.

Ich ertrage sie gerade nicht, diese Ruhe. Ich möchte in Bewegung bleiben. Möchte gegen sie ankommen, gegen diese innere Unruhe. Sie rauslassen. Weil ich mich dann besser fühle. Weil ich dann wieder atmen kann.  Ich mag es, wenn die Welt laut ist, wenn sie schreit, wenn ich hektisch von einem Tag in den nächsten stolpere. Meine Gedanken rasen und mein Herz gleich mit. Ich rase, innerlich, komme nicht zum Stillstand. Wie Staub, der immer wieder aufgewirbelt wird, sobald er einmal zur Ruhe gekommen ist und sich seinen Platz gesucht hat.
Bewegung sorgt für Ablenkung, denke ich mir, und Ablenkung ist gut.

„Du kannst nicht vor deinen Gefühlen davonlaufen.“ Ihre Stimme klingt eindringlich, besorgt irgendwie.

Vielleicht laufe ich weg, ja, aber bedeutet weglaufen nicht auch irgendwo anzukommen?
Gefühle sind da, um sie zu erleben, zu durchleben und sie dann loszulassen. Doch ich bin irgendwo zwischen erleben und durchleben stecken geblieben, habe meinen Weg aus den Augen verloren und das Loslassen einfach ausgelassen. Vielleicht war das Timing einfach noch nicht richtig. Vielleicht war der richtige Moment zum Loslassen einfach noch nicht da. Vielleicht habe ich ihn verpasst, durch das in Bewegung sein; durch die in mir tobende Unruhe.

Es ist nicht schlimm alleine zu sein, es ist einfach nur verdammt schwer, kostet Mut, Kraft, Geduld und Ausdauer. Dinge, nach denen ich gerade suche; Dinge, die ich in den letzten Monaten irgendwie verloren habe.
Ich muss ihn wiederfinden, den Zauber, der im Alleinsein liegt, dieses Gefühl der unendlichen Freiheit; das Gefühl, einfach alles tun zu können. Die Welt steht mir offen. Es gibt so viele Türen, so viele Wege, die es zu erkunden heißt. Ich muss sie nur finden, die richtige Tür, den richtigen Weg.

Bevor ich mein Handy ausschalte, die Kopfhörer weglege, starte ich einen meiner aktuellen Lieblingssongs: Lizzo – Good as hell.

I do my hair toss, check my nails
Baby, how you feelin’? (Feelin’ good as hell)
Hair toss, check my nails
Baby, how you feelin’? (Feelin’ good as hell)

Ich spüre die Musik, wie sie in meinem Körper pulsiert; wie sie in meiner Brust vibriert.
Ich stehe im Schlafzimmer, vor meinen Spiegel, betrachte mein Gesicht. Die geröteten Wangen, die verweinten Augen. Doch da ist noch was. Ein Lächeln, kaum zu sehen, doch es ist da. Ich kann es fühlen. Kann es ganz genau fühlen.

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